Tina 605 – der Geheimtipp

Flügelfeder

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Moin allerseits!

In letzter Zeit habe ich mich mit einseitig geschliffenen Gärtnermessern beschäftigt, weil die Klingen einen ungeahnt hohen Alltagsnutzen haben und mir auch in rechtlicher Hinsicht erfreulich unkompliziert erscheinen.
Neben einigen verbreiteten Exemplaren hat es mir besonders ein Geheimtipp angetan: das Tina Messer 605. Warum Geheimtipp? Obwohl die Firma Tina in der Gärtnerszene (auch international) einen festen Platz hat, sind die Produkte ansonsten seltsam unbekannt. Junge Firma, die sich erst noch etablieren muss? Weit gefehlt! Seit mittlerweile 163 Jahren werden dort Messer hergestellt und das Modell 605 unverändert seit 1934! Aber woran liegt's, dass es sich hier immer noch um einen Insidertipp handelt? Zum einen hat Tina den Fokus auf Spezialmesser gelegt und wer ausschließlich sehr spezielle Berufsmesser baut, ist dementsprechend unbekannt auf dem Markt für Alltagsklingen. Zum anderen sitzt das in 4. Generation familiengeführte Unternehmen nicht in Solingen – und das merkt man erfreulicherweise auch an der allgemeinen Qualität, worauf ich später noch näher eingehe.

Daten
Slipjoint
geschlossen: 10,7 cm
geöffnet: 16,5 cm
Klinge: 6 cm
davon Schneide: 5,5 cm
Klingenhöhe: 1,2 cm
Klingenrücken: 2 mm
Gewicht: 59 gr.

Klinge
Die schmale Schaffußklinge ist out of the box wirklich sehr sauber geschliffen und haarscharf abgezogen. Zudem ist die Klinge überraschend hoch poliert. Deutlich über dem üblichen Solinger 'blaugepließt'. Dennoch lässt die deutlich ballige Klinge noch ganz leichte Unregelmäßigkeiten erkennen. Für mich die perfekte Mischung aus hochwertiger Handarbeit, die man noch als solche erkennt, aber kurz vor maschineller Präzision ist. Die Schneide verschwindet zusammengeklappt sicher, aber nicht tief im Griff, was viel Grifffläche zum Öffnen gewährleistet.
Besonders hervorzuheben ist aber sicherlich die Klingenhärte von 60° bis 61° Rckwell. Und das ist wirklich mal was feines, wo die üblichen Kohlenstoffklingen hiesiger Arbeitsmesser zumeist eher bei 56° bis maximal 58° liegen.
60° Rockwell sind aber vor allem auch deshalb hervorhebenswert, weil sich Hersteller von Alltagsklingen gerade bei so extremer Schneidgeometrie – wie diesem einseitigen Anschliff – nie trauen würden, solche Härtung vorzunehmen, da zu viele Klingen durch Anwenderfehler beschädigt zurück kämen. Das ist der Vorteil einer Firma wie Tina, die praktisch exklusiv im Spezialmesser-Segment tätig ist: Es kann davon ausgegangen werden, dass die Anwender ihr Handwerk verstehen und deshalb kann man das beste aus der Klinge rausholen.

Griff
Der Griff ist hoch ergonomisch geformt und die wunderschöne Nussbaum-Beschalung mit Schellack überzogen. Wer schon einmal länger mit einem Messer gearbeitet hat, weiß wie schwierig das Zusammenspiel von Form und Material ist: Kunststoffgriffe können den Schweiß nicht aufnehmen und es kommt leichter zu Blasen. Unversiegelte Holzgriffe absorbieren den Schweiß, quillen aber zum Teil dadurch auf und werden rau. Außerdem sind sie gerade in nasser Arbeitsumgebung nicht so haltbar wie Kunststoff. Sobald man das Holz allerdings mit Industrielacken versiegelt hat man eigentlich einen Kunststoffgriff und das Holz kann seine Vorteile nicht ausspielen.
Anders beim Tina 605: Der Schellack ist ein alter und sehr interessanter Werkstoff. Früher – und mittlerweile heute wieder – wurde Schellack im Füllfederhalterbau als dichtender, aber reversibler Kleber eingesetzt, um Gewinde zu versiegeln. Bei etwa 65°C wird er wieder flüssig und lässt sich rückstandslos entfernen. Ein weiterer Vorteil des Naturproduktes ist, dass er Wasser absorbieren kann (quillt leicht auf), ohne wasserlöslich zu sein. Auf diese Weise können in Maßen die Nachteile unbehandelten Holzes ausgeglichen, aber dessen Vorteile ausgespielt werden. Form und Materialbeschaffenheit sorgen hier gleichermaßen für bequemes Arbeiten auch über lange Zeit. Ein Arbeitsmesser im besten Sinne.

Verarbeitung
In einem Wort: Hervorragend. Ein tadelloses Arbeitsmesser. Und man merkt, dass es kein Solinger Produkt ist: All die üblichen Fehlerchen Solinger Messer fehlen. Das Messer ist außen wie innen und selbst im Gelenk und Nagelhau blitzblank. Nirgends irgendwelche Schleifrückstände. Die Klinge ist geöffnet wie geschlossen perfekt zentriert. Die Klinge und die Schneide sind absolut gerade. Die Griffschschalen sind sehr symmetrisch geschliffen und liegen überall ohne Spalt absolut plan auf. Platinen sind entgratet.
Und jetzt kommt's: Klingenrücken und Rückenfeder gehen bei geöffneter Klinge nahtlos ineinander über. Etwas, das bei Solinger Messern meiner Erfahrung nach so selten ist wie ein Lottogewinn...
Ich habe nichts zu beanstanden, nicht einmal kleinste Schönheitsfehlerchen, wie im Klingenschacht nicht völlig plan versenkte Schrauben, finden sich: Alles wirklich hervorragend gemacht. Unter klassischen handgefertigten Serienmessern mit das beste, das ich bisher gesehen habe. Zudem die Härtung auf 60°/61°, die auch in puncto Verarbeitung nochmals hervorzuheben ist.

Besonderheiten
Da der Kopulierschnitt, für den das Messer konzipiert ist, rechter Hand Schneide gegen Daumen verläuft und dies genau die Bewegung ist, mit der man als Rechtshänder für gewöhnlich ohne Schneidunterlage schneidet, sind Klingenform und der einseitige Anschliff perfekt, um Lebensmittel unterwegs in der Hand zu schneiden: das Brötchen aufschneiden, Wurst oder Käse ohne Schneidunterlage in Scheiben schneiden, etc. Zudem lässt die Watenspitze Klingenform ein Schmieren von bspw. Butter mit dem Klingenrücken zu. Gerade Kartonagen sind für die ballige Klinge mit stabiler Spitze kein Problem. Alltagsaufgaben aller Art löst das Messer dementsprechend mit Bravour und aufgrund der hohen Schnitthaltigkeit auch lange.
Aber die eigentlichen Besonderheiten liegen woanders: Gerade professionelle Berufswerkzeuge fallen meist durch sehr durchdachte Detaillösungen auf. So auch das Tina 605. Wem auf den Fotos die kurze Rückenfeder aufgefallen ist und der dadurch weit im Griff liegende Übergang von Klingenrücken zur Rückenfeder im geöffneten Zustand, der hat womöglich auch gesehen, dass bei geöffneter Klinge die Schneide praktisch direkt am Griff anfängt. Die Klingenachse sitzt tiefer im Griff und damit liegt das Ricasso größtenteils im Griff. Aber warum? Weil gerade beim Schnitt Schneide zum Daumen der Daumen weiter gespreizt werden muss, je länger die Fehlschärfe ist. Um ein möglichst bequemes Arbeiten zu gewährleisten – wir haben beim Arbeitsmesser langes Arbeiten am Stück vor Augen – wurde das korrigiert, um eine ergonomischere Haltung zu gewährleisten. hervorragend gelöst. Außerdem hat es ein gewisses ästhetisches Element: Auf diese Weise rückt die im Verhältnis zum Griff recht kurze Klinge in geschlossenem Zustand optisch mehr in die Mitte. Sie wirkt also nicht ‚zu kurz‘ für den langen Griff. Auch das ist sehr hübsch gelöst.
Dass es sich hier um ein reines Arbeitsmesser handelt, merkt man auch dadurch, dass wegen der tief im Griff sitzenden Klingenachse das Firmenlogo bei geöffneter Klinge im Griff verschwindet. Herrlich bescheiden!
Zudem kommt das Tina nicht nur mit Firmenhistorie und Produktkatalog, sondern vor allem auch mit einer Abziehanleitung, was bei einseitig geschliffener, balliger Klinge durchaus sinnvoll ist, denn mit einem Lansky kommt man hier nicht allzu weit.
Und dann wäre da noch die rechtliche Lage: Slipjoint mit 6 cm kurzer Klinge (5,5 cm Schneide). Watenspitze Schaffußform eignet sich nicht zum Stechen. Völlig untaktische und durch die geschwungene Linienführung elegante Optik. Also hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Durch Klingengeometrie und Anschliff fest definiertes Aufgabenfeld als Blumen-/Gärtnermesser oder eben für das Schneiden von Lebensmitteln in der Hand… Sowohl in Deutschland, als auch im europäischen Ausland und international scheint mir: Wo das Führen eines Taschenmessers überhaupt erlaubt ist, sollte das Tina 605 unproblematisch sein. Und in Zweifelsfällen könnte durch die vergleichsweise ungefährliche Klingenform eher zu dessen Gunsten entschieden werden. Für mich ein ideales Reisemesser auch und vor allem ins Ausland – sowohl wegen des praktischen Anwendungsgebietes, als auch wegen der rechtlich unkomplizierten Parameter: Soweit ich es überblicke, zählt dieses Messer in den meisten Ländern zu den erlaubten Klingen. Allerdings ist das hier ausdrücklich in keinster Weise als Rechtsberatung zu verstehen.

Preis/Leistung und Konkurrenz
Das Messer ist mit einem Preis von grob 70,- € günstig, für das, was es bietet. Aber es ist teurer als die Konkurrenz und deshalb lohnt sich hier ein vergleichender Blick:
Die beiden Hauptkonkurrenten sind in meinen Augen das Victorinox Blumenmesser und das Loewen Messer 1050. Um es vorweg zu nehmen: Aller drei scheinen mir schlicht eine unterschiedliche Käuferschicht anzusprechen und damit gibt es keinen ‚Gewinner‘.
Das günstigste ist das Victrinox. Die Qualität ist, wie bei Victorinox üblich, auf sehr hohem Niveau. Es ist sehr viel Messer fürs Geld, allerdings nicht handgemacht und mit dem geraden Kunststoffgriff auch nicht für den Dauereinsatz konstruiert. Zudem ist die Schnitthaltigkeit des Victorinox nicht mal annähernd auf dem Niveau des Tina 605. Die Härtung der Klinge auf 60° bei Tina ist eine Freiheit, die Victorinox sich nicht leisten kann, weil Anwenderfehler beim Schweizer Messer einkalkuliert werden müssen und man mit geringerer Härte sicherer fährt.
Das Loewen Messer ist optisch schon eher Konkurrenz zum Tina, allerdings zeigen sich hier erhebliche Unterschiede in den Details: Die Griffergonomie des Tina ist eindeutig komfortabler. Der Überzug mit Schellack macht den Griff des Tina haltbarer, ohne dass die Vorteile eines Holzgriffes gänzlich verloren gehen. Die Klingenhärte des 605 ist deutlich höher und die Schnitthaltigkeit damit ebenso. Auch der ballige Schliff bei Tina im Vergleich zum Flachschliff beim Loewen Messer ist für den Alltag noch etwas praktischer: Kartonagen lassen sich noch leichter zerteilen und der ballige Schliff gleicht den extremen Schneidwinkel beim einseitigen Anschliff etwas aus und führt – neben der Härte – zu höherer Standzeit der Schneide. Zudem ist bei Tina noch mehr Wert auf den Handabzug gelegt worden. Doch vor allem die tiefer im Griff liegende Klingenwurzel des Tina ist – wie oben geschildert – ein kleines, aber feines Detail mit großem praktischen Nutzen.
Kurzum: Für Blumen und unregelmäßige Arbeiten scheint das unverwüstliche Victorinox am besten zu sein. Für ambitionierte Gärtner, die ab und an auch mal länger am Stück arbeiten, eignet sich eher das Loewen Messer. Das Gärtnermesser für den professionellen Einsatz ist allerdings das Tina.
Schön und gut, aber was heißt das jetzt für mein Anwendungsgebiet als Reise- und Alltagsmesser? Alle drei genannten sind gute Messer für das Schneiden unterwegs. Am Tina überzeugt neben der sehr guten Verarbeitung vor allem die Schnitthaltigkeit aufgrund der hohen Härte und des balligen Schliffs. Das bedeutet unterwegs – wo meist kein Schleifmittel verfügbar ist – auch einen zweiwöchigen Urlaub sicher zu überstehen und selbst am letzten Tag noch weiche Tomaten schneiden zu können, wenn‘s sein muss. Zudem gefällt mir die tiefer im Griff liegende Klinge, weil die Schneide so direkt am Griffende ansetzt und gerade beim Schneiden von Lebensmitteln in der Hand ist das einfach bequemer.

Und jetzt natürlich die Bilder ;)

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Bei Gelegenheit folgen noch ein paar kulinarische Bildmotive, um die Anwendung zu veranschaulichen ;)

Grüße in die Runde,

Armin
 
Bei Tina werde ich immer schwach...

Danke für den schönen Bericht! Mein Favorit ist das feststehende 685, das Klappmesser habe ich leider verloren.

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Und nun noch nachträglich die versprochenen Bilder:

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Euch allen gute Wünsche für den anstehenden Jahreswechsel,

Armin
 
Tausend Dank dir für die Mühe dieses guten Berichtes!

Viel Information und Recherche, anschaulich dargebracht und gut zu lesen. Noch bevor ich zu den Bildern kam, wusste ich schon, dass ich mir diese Messer näher anschauen muss.

Ein gutes Neues Jahr wünsche ich,
Alex
 
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