Revue "LE PERIGORD"

Virgil4

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Diesmal etwas „French Engineering“ auf dem Knife-Tec-Channel mit dem „Le Périgord“ von der gleichnamigen Coutellerie.

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D’abord ein paar Informationen zu Land und Leuten:

Das Périgord, gleichbedeutend mit dem Département Dordogne, ist ein Gebiet der Region Aquitaine im Südwesten Frankreichs, bekannt für tolle Landschaften, gutes Essen (u. a. neben dem Elsass einer der beiden Hotsports in Frankreich für „Foie Gras“), steinzeitliche Fundstätten (wenn ihr dort seid, unbedingt Lascaux besuchen) und bei manchen auch als die Heimat von „Bruno, Chef de Police“, der Romanfigur von Martin Walker.

Messer gibt es dort natürlich auch - die Messer aus Nontron sind sehr charakteristisch, alle weiteren Messer der Aquitaine sowie die der anderen Regionen findet man recht gut und ausführlich beschrieben auf dieser Seite: Quel couteau selon quelle région ? Liste des Couteaux régionaux français (https://comptoirducouteau.fr/carte-couteaux-regionaux-france/)

Das Le Périgord gehört übrigens zur Kategorie "Néo-Régionaux", also ein "modernes Regional-Messer", die in den letzten Jahren immer häufiger entstanden sind. Sie tragen typischerweise den Namen einer Gegend oder Stadt bzw. beziehen sich auf eine lokale Besonderheit.

Exemples? Voilà:

"Le Talus" verneigt sich vor den Abraumhalden des Nordens.

"Le Liadou", das Winzermesser aus dem Marillac.

"Le Tarn", benannt nach dem Namen Département nordöstlich von Toulouse.

Viele weitere Infos zu französischen Messern finden sich hier, sogar mit Blick über die Grenzen - aber leider nur auf französisch.

Etwas nördlich von Nontron, in Saint-Estèphe, gründete François Devige, der Chef der Coutellerie Le Périgord 2003 seine erste Messerwerkstatt, die Läden befinden sich in Nontron, Brantome und Sarlat la Caneda.

In Sarlat bin ich beim Bummel durch diese tolle mittelalterliche Stadt „zufällig“ auf seinen Messerladen gestoßen und schon war es nur noch eine Frage der Ausführung des Messers, welches ich dort kaufen würde. Schnell war klar, daß es die Version mit magnetisch haftenden Griffschalen sein würde, also „Prestige“ – nicht sichtbare Schrauben fand ich bei Messern schon immer très chic!

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Die genaue Bezeichnung meines Messers ist „Périgord à Billes Prestige en Wengé“, „Kugel-Périgord in Wenge, Modell Prestige“, alle Infos der Website hier: clique . Wer kein Französisch spricht, hat ein Problem (wie so oft in Frankreich) – auch der Klick auf die Englische Version der Website rechts oben bringt nicht viel, da man dann nur noch die Bilder und das Bestellfeld (immerhin auf Englisch) sieht.

„Donne moi ton fric et lache-moi la grappe ....!“ kam mir spontan in den Sinn. Wie hier, hülfe auch deepl.com oder ähnliche Tools bei der Übersetzung. Oké, ich helfe schnell aus: "gib mir deine Kohle und lass mich in Ruhe!"

Oder ihr lest einfach weiter und bekommt die Beschreibung und Bewertung der innovativen Features dieses besonderen Messers inkl. einiger Blicke unter „la jupette“ in Wort und Bild ...

Drei Besonderheiten zeichnen dieses Messer aus:
  1. Die „Verriegelung“ im offenen und geschlossen Zustand der Klinge über Druckstücke ("wassndassn ?" -> kommt später)
  2. Die Klinge verschwindet im geschlossenen Zustand komplett im Griff und muss zum Öffnen mittels einer Mechanik aus dem Griff gedrückt werden
  3. Die Griffschalen halten mit je zwei Neodym-Magneten auf den genesteten Linern

Die ersten beiden Features sind seit 2011 unter der Nummer FR2981599 beim INPI (Institut National de Propriété Intellectuelle, das Französische Patent- und Markenamt) angemeldet: clique . Unter dem Reiter „Documents associés“ finden sich im Document „Dessins“ weitere, erklärende Zeichnungen.



Die Arretierung:

Verwendet werden hier zwei sogenannte „federnde Druckstücke“, die in den beiden Linern sitzen und nur eingesteckt sind. Hier ein Beispiel mit Querschnittszeichnung, clique

Die Druckfeder im Gehäuse des Druckstücks drückt eine Stahlkugel in ein Loch in der Klinge (puuuh, immer dieser Druck....). Diese beiden Löcher sind sehr nahe an der Achse und haben deswegen ein ungünstiges Hebelverhältnis, zudem sind die Federn in den Druckstücken nicht sehr stark. Deswegen ist die Haltekraft „offen“ recht gering - für mich zu wenig bei einer Klinge dieser Länge. Die Druckstücke sind außerdem ziemlich lang, deswegen müssen die Schalen eine entsprechende Wölbung haben, was wiederum zu einem recht voluminösen Griff führt.

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Eine ähnliche, aber imho technisch überlegene, Lösung wäre die Verwendung eines „Detentlocks“ gewesen. Damit hätte man höhere Haltekräfte und eine kompaktere Bauform.

Beispiel: das Federalist von Kershaw

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Klinge aus dem Griff!

Wenn man das geschlossene Messer in der Hand hat, ist es gar nicht so einfach herauszufinden, wie man die komplett versenkte Klinge aus dem Griff bekommt – auch weil an beiden Enden des Griffs diese scheinbar gleichen metallenen Dreiecke überstehen. Eines ist die Klingenwurzel ohne Funktion, das andere die Mechanik zum Herausdrücken der Klinge, allerdings nur ca. 8 mm, damit man sie zum vollständigen Öffnen mit den Fingern greifen kann.

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Die Mechanik ist recht einfach, aber trotzdem aufwendig von der Anzahl der Teile her, wie man hier sieht. Die Metallplatte rotiert um die obere Kreuzschlitzschraube, der Weg und die Betätigungskraft wird durch die eingelegte Druckfeder und einen quer sitzenden Stift sowie die eingefräste Nut bestimmt.

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Federn sind übrigens sehr interessante und vielseitige technische Bauteile – kleiner Exkurs gefällig? Clique

Der Kontakt mit der Klinge beim Herausdrücken könnte die Schneide beschädigen, deshalb kommt hier etwas Plastik zum Einsatz. Das eingepresste Kunststoffscheibchen ist aus POM (Polyoxymethylen), Franzosen verwenden natürlich den geschützten Markenname von DuPont: DELRIN. Weitere Infos für den kleinen Chemiker hier.


Die Griffschalen

In meinem Fall aus Wenge, auf der Innenseite passend ausgefräst, so daß die Liner komplett umschlossen werden und die Achse und die Druckstücke ihr Plätzchen finden. Die Befestigung pro Schale erfolgt über zwei sehr gut haltende Neodymmagnete. Die einfachere Ausführung „Tradition“ hat drei Schrauben pro Seite zur Befestigung, allerdings auch schlankere Schalen (ca. 3 mm pro Schale weniger als bei „Prestige“). Zur Auswahl stehen verschiedene Griffhölzer und sogar Klingen aus Damast.

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Weitere technische Eigenschaften:

  • Ein kleiner Standoff, befestigt mit einer Kreuzschlitzschraube hält mit der Achse des Herausdrückers den hinteren Teil der Konstruktion zusammen.
  • Der Anschlag der Klinge in den Endpositionen wird über einen Stoppin geregelt, der in einer halbkreisförmigen Nut um die Achse läuft und etwas knapp in den Linern sitzt.
  • Die Klinge läuft direkt auf den Stahllinern – funktioniert, hinterlässt aber Rotationsspuren mit der Zeit.
  • Die Achse ist seltsamerweise zweigeteilt und wird von einer langen Schraube mit INBUS-Kopf zusammengehalten, die auch das seitliche Klingenpiel regelt. Allerdings passt nur eine Seite der beiden Achsteile maßlich richtig in das Achsloch der Klinge – nun gut, ich muss nicht immer alles verstehen.
  • Die Klinge aus Sandvik 12C27, ein von französischen Messermachern häufig verwendeter, rostträger Stahl, ist schön dünn ausgeschliffen mit einem MWÜW von < 0,3 mm. Da verzeiht man auch kleinere Unregelmäßigkeiten in der Ausführung des Schliffs...
  • Das Messer liegt gut in der Hand und würde damit zum kräftigen Einsatz einladen, wenn da nicht die schwache Haltekraft wäre – dommage!
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Technische Daten:

  • Klingenmaterial: Sandvik 12C27
  • Markierungen auf der Klinge: links: „LE PERIGORD“, rechts: nix
  • Klingenform: „Normalklinge“ lt. Wikipedia
  • Öffnen über Mechanik am Griffende und Herausklappen mit den Fingern
  • Klingenschliff: Flachschliff
  • Schalenmaterial: Wenge
  • Liner: rostfreier Stahl
  • Klingenlagerung: zweigeteilte Achse, keine Scheiben
  • Gesamtlänge: 202 mm
  • Klingenlänge: 87 mm
  • Klingenhöhe: 18,6 mm
  • Klingenstärke: 2,5 mm, < 0,3 mm hinter der Wate
  • Grifflänge: 117 mm
  • Verhältnis Griff/Klinge: 1,34
  • Griffdicke: 18,1 mm
  • Verriegelung: über 2 Drückstücke L/R
  • Gewicht: 77 g
  • Schalen über je 2 Magneten auf den Linern befestigt
  • kein Clip, kein Lanyardloch

En synthèse: ein schöner Schneidling für’s Restaurant mit technischen Raffinessen, aber auch ein paar kleineren Schwächen in der Umsetzung.

„Pas mal, mais un peu bricolé ..“, würde ein Franzose wohl sagen – „nicht schlecht, aber ein bisschen hingebastelt....“

Bonne nuit

Virgil
 
Last edited:
… schon vor dem Öffnen des Beitrags hat das erste Wort von dir „Revue“ Freude und Spannung ausgelöst … Yes - endlich wieder eine neue Folge aus dem Knife-Tec-Channel mit diesem außergewöhnlich tiefen Blick hinter die Technik. Wirklich interessante unkonventionelle technische Details, die dem schönen, schlichten Messer einen einzigartigen Charakter geben.
Herzlichen Dank für den schönen ausführlichen Bericht mit deinen persönlichen Gedanken und der Mühe die du dir gemacht hast…
Grüße aus Fulda und eine gute Nacht
von mir.
 
Servus,

ich zitiere jetzt Augsti nicht nochmal, aber er hat alles gesagt. (y)(y)(y)

Das nenn ich gehaltvolle, fachliche Qualität getunkt in einen klassischen Virgil-Stil. Ein Fest, das zum ersten Kaffee zu lesen. Später sicher noch ein zweites und drittes mal, um wirklich alles zu kapieren, ist ja noch früh. ;)

Gruß, güNef
 
Bonjour Virgil,
sehr schöner Bericht über ein schönes Messer. Deine Einlassungen
auf Französisch m'ont bien amusé, haben mich recht amüsiert. Es ist tatsächlich so,
dass die Webseiten selbst international tätiger Firmen in Fremdsprachen oft
nur eingeschränkt funktionieren. Motto: 'Wenn die Herrschaften clients irgendwas
wollen, mögen Sie bittschön die 'langue des rois', Sprache der Könige, benutzen.'

Die Wiederkehr der néo-regionaux finde ich auch sehr gut. Zur Geschichte dazu noch:
In Frankreich hatte früher, im 18,/19. Jahrhundert, jede Region, manchmal jede Stadt,
ihre eigenen Regional/Lokalmesser. Das hörte ab 1920 mehr oder weniger auf, weil die
lokalen Schmieden mit den quasi industriell gefertigten Messern aus Thiers preislich
nicht mehr mithalten konnten, und durch die besseren Verkehrswege Messer aus Thiers
überall im Land verfügbar wurden. Vielen lokalen Schmieden machte auch die Welt-
wirtschaftskrise 1928 den Garaus, und manche hatten im I. WK Leute verloren. Um
1970 traf die Messerkrise auch etliche kleine Hersteller in Thiers, eine Wiederbelebung
folgte ab ca.1990. Ich war 1973 zum ersten Mal mit meinen Eltern in Thiers, Tristesse
wohin man blickte, geschlossene Geschäfte, blinde Schaufenster, staubige Vitrinen.
Kein Vergleich mit dem lebendigen Thiers von heute. Auch schön zu sehen, dass sich
anderswo im Land wieder junge Messermacher etablieren können, dazu hat sicher auch
der Tourismus und das Internet beigetragen.
Bonne journée à tous,
Rudi
 
Bonjour,
unser Virgil ist nicht nur der Top-Reviewer im Forum.
Als er weiland in Sarlat weilte und das reviewte Messer kaufte, hatten wir eine Standleitung über das „rote Sammler-Telefon“
Das Prestige gefiel mir sofort, mutete mir die Klingenform elegant tantoähnlich an.
Kurzum, der weltbeste Virgil brachte mir eins mit. 🙏🏼

Einige Jahre später war ich persönlich im wunderschönen Sarlat und fand den Laden nach Virgils Beschreibung mühelos.
Meine Ausbeute - das regionalste Messer der Region - das Perigot.
Hier mit Padoukbeschalung und als französisches Survivaltool - Klinge + Korkenzieher 🍷


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@Edit me - das zweite herausstehende Metallende am Griff( die Klingenwurzel ) ist nicht ganz ohne Funktion.
Man kann sie
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als „verkappten“ Frontfipper nutzen. Die Einhandöffnung ist sehr tricky, aber möglich😆
Allerdings lag das sicher nicht im Sinne der Macher, meine „Entdeckung“ halte ich für einen Zufallsfund🤷🏻‍♂️
 
Danke @Virgil4 für das kurzweilige wie fachmännische Revue, das ich allerdings erst einmal Revue passieren lassen musste. Du hast mich überzeugt, das Perigord gefällt mir: Region, Speisen, die schwarzen Trüffel nicht zu vergessen👍😁
Dass man bei einem Messer aber erst Ingenieurswissenschaften studieren muss für die einfache Grundfunktion: schneiden!?!? Sieht mir nach bisserl technoidem Overkill aus. Die total verdeckte Klinge ist sicher besonders, aber… Mich erinnert der Messerkasten an die schwedischen Barrelknives. Nur, dass das Perigord mit den angesetzten Schalen französisch natürlich eleganter daherkommt. Resümee: Für mich zu kompliziert 🥹

Dann lieber ein Hauch von Truffe
Abu
 
Servus Burghard, und @Alle,
falls es Dich mal ins Périgord ziehen sollte, schlage Dich mal durch diese
französische Webseite:
Les sites incontournables de vos vacances dans la Vallée de la Dordogne (https://www.nouvelle-aquitaine-tourisme.com/fr/vallee-de-la-dordogne)
Die deutsche Version ist, wie üblich, keinen Schuss Pulver wert.
Hier findest Du Infos zu den lokalen Messermachern, den Trüffelmärkten
im Herbst, den Käsen, usw. Frische Trüffel gibt es im Herbst, eingeglaste in
Öl das ganze Jahr.

Den beliebtesten Käse des Périgord, La Trappe, gab es früher exklusiv in einem
Frauenkloster, dass früher das 'Kloster der schönen Fräulein' genannt wurde.
Die Adelsleute Zentralfrankreichs haben früher, wenn sie ihre nachgeborenen
Töchter nicht an den Mann gebracht haben, diese in der Abbaye de l'Echourgnac
abgegeben. Angeblich sollen die schönen Fräulein häufig Neugeborene vor den
Toren des Klosters 'gefunden' haben, die die 'Mädchen aus dem Dorf' dort
abgelegt hatten😊. Erfährt man bei der Klosterführung. Das Kloster ist aufgelöst,
es gibt aber Führungen durch das Gemäuer, und einen lokalen Bio-Laden, der von
den jetzigen Bewohnern, die auch die Betreiber der Käserei sind, geführt wird,
Fromagerie de la Trappe I Abbaye d'Echourgnac, Dordogne, France - Fromage à la noix (https://www.fromageriedelatrappe.com)
Ich hatte mal einen Kollegen in Brive-La Gaillarde, so sind wir da mal hingekommen.
Sarlat ist ganz in der Nähe.
Bonne journée
Rudi
 
@Abu-
Technischer Overkill? Klar, kann man so sehen.
Ich würde es persönlich nicht so sehen. Beim Prestige wollten die Macher imho einfach mal „was anderes“ probieren- technisch wäre, wie Virgil formidable beschrub, ein Doppel-Detent einfacher gewesen.
Am Ende kam ein besonderer Mechanismus und eine unglaublich aufgeräumte, cleane Formgebung heraus😉
 
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Reactions: Abu
@excalibur Naja, ich hab den technischen Overkill mit „bisserl“ ja doch relativiert. Haltekraft der Klinge wäre mir z.B. wichtiger, und Zitat Virgil:
Pas mal, mais un peu bricolé ..“, würde ein Franzose wohl sagen – „nicht schlecht, aber ein bisschen hingebastelt....“
Abu
 
Merci Messieurs, je suis flatté .... 🙏

In der Tat ist das Messer für einen Franzosen technologisch sehr "aufgeladen" und sicher nicht mit den tip-top gefertigten Teilen aus Norditalien oder Asien in Bezug auf Präzision oder saubere Fertigung zu vergleichen.

Aber als Gesamtpaket passt es für mich schon, und darauf kommt es ja an - fragt mal eure Frauen!

Bonne soirée

Virgil
 
Super Review, danke dafür !

Ein wirklich schönes Messer, allerdings frage ich mich ob man im Restaurant noch bezahlen kann, wenn die EC-Karte in der Hosentasche in die Nähe der Neodym Magneten kommt. ;)
 
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