Ich kenne diese Diskussionen in- und auswändig, nur ging es da um eine mechanische Uhr, sagen wir: eine Omega um 4.000 Euro, bei welcher gewisse Qualitätsmängel moniert wurden. Auch da wurde entgegengehalten, dass man um diesen Preis nur solide, aber anspruchslose Serienprodukte mit entsprechenden Toleranzen erwarten dürfe. Wirkliche Qualität fange nun mal ab 8000 Euro an, oder man gehe gleich zu den "Unabhängigen", der sogenannten AHCI und kaufe im fünfstelligen Bereich.
Dann kommt das Argument: Auch bei meiner 1000 Euro-Tissot ist dasunddies perfekt, das kann man von einer 4000 Euro-Omega doch auch erwarten.
Und zuletzt meint der Sammler, der 15.000 für eine Uhr eines der besagten Unabhängigen bezahlt hat, für solche Handarbeit kann man unmöglich jene Perfektion verlangen, die CNC-Roboter hinlegen könnten. Wer Null Toleranzen will, möge sich eine Seiko oder Citizen um 150 Euro kaufen.
Das ist nur ein Beispiel von vielen. Und zu einem befriedigenden Ergebnis ist keine dieser Diskussionen gekommen.
Wenn ich meine Erfahrungen mit der Uhrenindustrie in unser gegenwärtiges Thema einfließen lasse, schließe ich Folgends:
1) Die Taschenmesserproduktion ist in einem Umbruch, von der Massenproduktion von Alltagsnutzartikeln, die praktisch jeder hat, hin zur begrenzten Produktion von Luxusgütern.
2) Dementsprechend steigt das Preisniveau an. Der Einstieg unter einhundert Euro für europäische Produkte wird immer seltener möglich. Die Einstiegsklasse definiert sich allmählich dort, wo heute noch die Mittelklasse ist. Vor zehn Jahren war bei mechanischen Uhren der Einstieg bei Chronographen unter 1.000 Euro, heute liegt das bei 2.000. Bei Taschenmessern wird sich die Tendenz ähnlich zeigen.
3) Gleichzeitig versucht die Industrie, das Thema "Handarbeit" zu mystifizieren. Noch ist der vielfach vergewaltigte Begriff der "Manufaktur" in der Messerwelt noch nicht zum Kampfbegriff geworden, das wird aber sehr bald so sein. WEr sich "Manufaktur" schimpft, wird dementsprechend die Preise anheben, weil er jetzt etwas "Nobleres" hat. Wider die historische Wahrheit behauptet die INdustrie, Manufaktur bedeute handarbeit, Handarbeit sei menschlichen Schwächen unterworfen und könne deshalb nicht so perfekt sein wie Maschinenarbeit, habe aber (jetzt kommt der Schmafuklassiker) "eine Seele", im Gegensatz zur "seelenlosen" Automatenproduktion. Dafür müsse man schon mehr zu zahlen bereit sein. Kurz: (kleine) Fehler sind teuer als fehlerlos, weil Handarbeit und daher mit mehr Prestige behaftet.
4) Die Leute glauben es und lassen der Industrie (fast) alles durchgehen, und zahlen dafür immer höhere Preise. Schwächen im handwerklichen Finish werden von der Industrie mit Hinweis auf neue Mechanismen, "innovative Materialien" etc. billigend in Kauf genommen.
Nur zur Illustration, bei den Uhren sprechen wir von solchen Schwächen im Finish:
Wie soll man meiner Meinung nach in solchen Fällen, wie im Eingang beschrieben, vorgehen?
Nicht verschweigen, nicht einfach akzeptieren. "Wehret den Anfängen!" - Wenn man den Herstellern nicht von Anfang an Grenzen setzt, nährt man den Glauben, "ungestraft" für schlampige Arbeit viel Geld verlangen zu können. Ich finde, man soll als Kunde durchaus zeigen, was man in einer bestimmten Preisklasse noch toleriert, und was nicht.
Mein erstes Laguiole ist auch von L. en Aubrac, und weist Schwächen in der Verarbeitung aus, in erster Linie eine durch übermäßige Politur komplett "rundgelutschte" Guillochage der Feder:
Ansonsten ist es aber in Ordnung, die Pins des Hirtenkreuzes sind regelmäßig gesetzt, die Klinge gerade, es sind keine deutliche Spalten zwischen Backen und Holz. Vor allem: es hat 105 Euro gekostet. Dafür akzeptierte ich die geschilderte Schwäche.
Das zweite Beispiel ist ein Thiers von Chambriard für 95 Euro: Hier sind Schwächen noch schwerer zu finden.
Alles passt genau, die Guillochage ist unvernudelt und sauber.
Den einzigen "Fehler" finde ich am Ende des Messers, wo die Feder innen nicht ganz formschlüssig mit den Platinen abschließt:
Auch das aktzeptiere ich gerne.
Wenn nun Chambriard für 95 Euro diese Qualität X abliefert, L. en Aubrac in meinem Fall für 105 Euro X-1, dann steht es in meinem Ermessen, dieses Minus an Qualität zu tolerieren oder nicht. Ich habe es toleriert.
Wenn aber das eingangs gezeigte Messer für mehr als den doppelten Preis nicht 2mal X an Qualität liefert, sondern lediglich anderthalb mal X, oder gar weniger als X, dann finde ich, man sollte damit als Kunde nicht zufrieden sein. Denn dann wird man früher oder später für den dreifachen Preis auch keine bessere Qualität erhalten.
In diesem Fall gehe ich also nicht mit Marcel konform, dessen Expertise ich ansonsten sehr schätze.
Ich entschuldige mich für meine ausschweifende Antwort.
Marcus